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Japan 2017 – 2018

    Ein Auslandsjahr in Japan
    Ein kleiner Zwischeneindruck
    Von Lea C.

    Ich bin jetzt fast vier Monate in Japan. Ich wohne direkt in Tokio, mit dem Zug etwa vierzig Minuten von Tokio Hauptbahnhof entfernt. Bald werde ich meine Gastfamilie wechseln und dadurch noch zwanzig Minuten näher herankommen.

    Meine Schule ist eine private Mädchenschule, die ich mit Zug und Bus in etwas mehr als einer Stunde erreiche. Sie besteht aus Junior und Senior High (Klassen 7 – 12) und hat etwa tausend Schüler. Schule ist Wochentags von halb neun bis halb vier, Samstags bis halb eins. Der Grund für den späten Beginn ist recht einfach, selbst ich stehe, um rechtzeitig zur Schule zu kommen, um sechs auf, und ich bin noch nah dran. Viele Schüler müssten um vier aufstehen, würde die Schule so früh wie in Deutschland beginnen.

    Im Stundenplan ist auch Zeit für AGs vorgesehen. Die AG-Stunde endet um halb sechs, auch Samstags. Die Sport-AGs sind grundsätzlich jeden Tag und eine halbe Stunde vor der Schule, andere, wie Kunst, Chor oder Astrologie, sind zwischen ein und drei Mal die Woche. Ich habe Iaido angewählt, eine Art Schwertkampf, entwickelt aus der alten Schwertkunst der Samurai.

    Ich bin mit dem festen Ziel nach Japan gegangen, Japanisch zu lernen. Und tatsächlich macht es einen großen Unterschied im Ausland zu lernen. Der tägliche Sprachgebrauch und das ständige Hören der Sprache führen ohne viel Aufwand zu einer Verbesserung. Um die Sprache gut und richtig zu lernen, muss man sich aber dann doch anstrengen – es kommt eben nicht von ganz allein. Allerdings bleibt mir zumindest in Japan nichts anderes übrig. Japan ist ein Land, das nur leidlich Englisch spricht. Meine Schulklasse in Japan hat sechs Stunden Englisch die Woche, und jeder Schulstunde dauert eine Stunde. Trotzdem dauert es über zehn Minuten, zu schlussfolgern, dass ich meinen Mitschülerinnen in die Cafeteria folgen soll. Und an meiner Schule sind sogar noch drei Stunden Englischunterricht pro Woche bei Muttersprachlern. 

    Selbst wenn einige Englisch sprechende Japaner zu finden sind – japanisches Englisch ist eine Sprache für sich. Und auch wenn das an meiner Schule nicht das Problem ist, wollen sie einfach nicht mit mir Englisch sprechen. Mir ist das durchaus recht, weil ich ja Japanisch lernen will, dennoch ist das Phänomen interessant. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Der offensichtlichere ist für mich der Englischunterricht. Obwohl ich nicht genau sagen kann, ob das Niveau des Unterrichts aus dem Niveau der Schüler folgt oder umgekehrt, kann ich ich recht genau sagen, dass wir teilweise eine Woche lang denselben Text behandeln – einen Text mit knapp zweihundert Wörtern. Mit entsprechenden Vokabelhilfen (welche auch in Japan zu finden sind) ist derselbe wahrscheinlich auch von gymnasialen Siebt- oder Achtklässlern zu lesen. Die drei Stunden Englischunterricht, die nicht bei Muttersprachlern sind, sind auf Japanisch – ich kann diesem Unterricht nicht folgen. Und selbst wenn die meisten Japaner deutlich besser englisch schreiben als reden können, zeigen sie es nicht.

    Eine japanische Freundin, welche gerade aus einem Auslandsjahr in Frankreich wiedergekommen war, erklärte mir, sie wolle nicht gerne vor ihren Freunden Englisch reden. Sie tat es dann dennoch. Die Reaktionen waren geteilt: Einmal eine für mich undefinierbare Art von scheuem Respekt, die man tatsächlich recht häufig antrifft, und auf der anderen Seite Gekicher. Auch das begegnet mir recht häufig, die jüngeren Schüler sehen es offenbar als Spaß oder viel eher Mutprobe an, sich vor mir auf dem Gang zu verbeugen und zumindest durch ein heftiges Kopfsenken deutlich zu machen dass sie mich als über ihnen stehend sehen. Ich quittiere das üblicherweise mit einem Lächeln. Kaum bin ich vorbei, geht das Gekicher los. Sie kichern, wenn ich an ihnen vorbeigehe, oder wenn sie mich auf der Straße treffen. Sie werden plötzlich rot, wenn ich ihnen zulächle. Ich habe gelernt, es zu ignorieren – sie lachen nicht über mich, oder jedenfalls lachen sie mich nicht aus. 

    Ich persönlich glaube, in einem Land, in dem “ein hervorstehender Nagel sofort eingehämmert wird“, ist Englisch ein zu großes Risiko. Wenn man Englisch spricht, gilt man als Ausländer.

    Kanji zu lernen ist übrigens gar nicht so schwer – das Gehirn merkt sich Bilder eben deutlich besser als Worte. Mir passiert es oft, dass ich weiß, was das Kanji bedeutet und das Wort verstehe – aber laut lesen könnte ich es nicht. Kanji sind ein wichtiger Bestandteil in der japanischen Sprache und erlauben einen tatsächlich unbegrenzten Wortschatz – selbst, wenn einem die Kombinationen aus gehen, was bei 80.000 Kanji schon ziemlich unwahrscheinlich ist, kann man ja einfach aus den entsprechenden Radikalen ein neues Kanji erstellen. Die Lesung ergibt sich dann von selbst.


    Eine Reihe von Beobachtungen zur japanischen Kultur

    Japanische Kultur … ist so eine Sache. Japan schafft den erstaunlichen Spagat zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Zwischen Wolkenkratzern und 6-Quadratmeter-Parkplätzen, anders gesagt, dem personifizierten Platzmangel, steht dann plötzlich ein Schrein mit riesiger Grundfläche, den man niemals dem Erdboden gleichmachen würde, und im netten französisch-bäuerlich wirkenden Restaurant finden sich unerwarteterweise halbhohe Tische auf Reisstrohmatten für die, die beim Essen lieber knien.

    Nicht nur in den Schreinen und Tempeln sieht man Frauen die den traditionellen Kimono tragen, sondern auch auf der Straße, weit öfter noch tragen Männer, meist Bauarbeiter oder Handwerker, Hakamas, das sind sehr weite Hosen mit einem zusammenfassenden Band am Knöchel.

    Meine Schule gibt Unterricht in modernem, alten und antiken Japanisch, Teezeremonie und Schreibkunst, und sie ist damit kein Einzelfall. Japaner sind ausgesprochen höflich, allerdings kann man sehen, dass das weniger zwischen Schülern und Freunden gilt. Viele entschuldigen sich dafür, dass ihr Englisch schlecht sei, selbst wenn es das nicht ist, und ich in Japan ja eigentlich Japanisch reden sollte. Alte Traditionen werden genauso gepflegt, wie man stolz auf den technischen Fortschritt ist. Das japanische Schönheitsideal lässt sich ganz einfach auf süß beschränken. Wer süß ist, hatte gute Karten, egal in welchem Gebiet (Europäische Mädchen werden grundsätzlich mit kawaii – süß – und europäische Jungs gerne mit kakkoii – cool – betitelt). Auch Schenkkultur ist angesagt, zwischen Freunden noch deutlich mehr als in der Familie, wo weder Weihnachten noch Geburtstag mit Geschenken gefeiert werden. Japanische Kultur ist sehr vielfältig und ist auf den ersten Blick auch sehr westlich – erst, wenn man die Sprache besser versteht (z.B. werden statt „Danke“ oft Wörter verwendet, die eigentlich „Entschuldigung“ bedeuten, was sehr viel über die Japaner aussagt) und länger in Japan bleibt, erkennt man die japanische Kultur im Alltag.    

    Ich kann jedem ein Austauschjahr nur empfehlen. Ich habe schon jetzt viel gelernt, auch über mich, so kitschig es klingt. Natürlich vermisse ich Clausthal und meine Familie. Aber ich habe in Japan eine zweite Heimat gefunden, und wenn ich durch die Straßen laufe, fühlt es sich an, als wäre ich schon ewig hier.


    “Japaner essen nur Reis und rohen Fisch?”

    Na ja. Fakt ist: Japanisches Essen besteht im wesentlichen aus Kombinationen von Reis, Fisch, Suppe und Nudeln. Typischerweise werden die spaghettiartigen Nudeln in die Suppe getunkt und dann schlürfend gegessen, sodass möglichst viel Suppe mit in den Mund kommt. Obst suche zumindest ich meistens genauso vergeblich wie Fleisch – dafür steht Tofu sehr hoch im Kurs. Sushi wird meistens im Restaurant gegessen, es dauert zu lange, es selbst zu machen, auch schmeckt es im Restaurant zu deutlich geringeren Preisen sehr sehr gut. Schon für etwa sechs Euro kann ich mich im Sushi-Restaurant (Typ „Tellerrotation“) sattessen. Sushi besteht nicht nur aus Reis und Fisch – allerdings ist auch der Fisch von deutlich anderer Qualität (schmeckt er nach Fisch, ist er schlecht). Man kann auch ohne rohen Fisch zu mögen super Sushi essen.

    Typischerweise nennt der Japaner jegliches Gebäck vom Toast bis zum Kuchen „Pan“, also Brot, Torte wird dafür Kuchen genannt. Jegliches Milchprodukt, sei es als Joghurt, Quark oder meinetwegen auch Pudding beschriftet, schmeckt typischerweise nach Fruchtzwerg, und hat auch etwa dessen Konsistenz. Wurst schmeckt – zumindest für meinen deutschen Gaumen – auch oft nach Tofu.


    Leben in Japan: U-Bahn-Stopfer & Co

    Nun ja. Fakt ist: Die Bahnen kommen selbst weiter draußen alle zwei bis fünf Minuten. Fakt ist leider auch: Der Japaner ist grundsätzlich nicht gewillt, zu warten. Selbst wenn der nächste Zug zwei Minuten später kommt und man sowieso schon eine Stunde zu spät ist. Japanische Züge sind im Gegensatz zur deutschen Bahn außerordentlich pünktlich. Und wenn sie mal nicht zum angegeben Zeitpunkt kommen, ist es weniger eine Sache der Verspätung. Sie kommen dann nämlich gar nicht. Was gerne mit “passenger injury or death” beschrieben wird, stellt sich des öfteren als Selbstmord heraus. Wenn die Züge dann wieder fahren, ist der letzte gerade aus dem Bahnhof raus, wenn schon der nächste kommt. Man ist dann üblicherweise schon eine halbe oder eine Stunde zu spät, und der nächste Zug kommt zwei Minuten später, und TROTZDEM quetschen sie sich in den Zug wie Bekloppte.

    Wobei das nicht ganz korrekt ist. An jedem Bahnhof sind Linien aufgemalt, die die Breite der Wagentür haben und die Nummer des Wagens tragen. Da wird dann schön rechts und links eine Linie gebildet. An den größeren Bahnhöfen sind sogar die Schlangen-Verläufe vorgegeben. Kommt der Zug, der so hält, dass die Wagentüren punktgenau an den Linien halten (an Bahnhöfen wie Tokio Hauptbahnhof werden Zugführer gefeuert, die dies nicht schaffen), reihen sich die Schlangen links und rechts an der Tür auf, warten, bis der letzte ausgestiegen ist, und gehen dann hinein. Die Züge, die ich vom Aufbau her eher mit Straßenbahnen vergleichen würde, sind zur Rushhour gelinde gesagt voll. Es kann schon sein, dass man zwei Schritte in den Zug hineinkommt, bevor die zusammengedrückte Menschenmassen wie ein Gummiball zurückkommt und einen wieder heraus schubst.

    Es ist nicht so schlimm, wie man denkt, in einem vollgestopften Zug in Japan zu stehen. Im Zug wird nicht gegessen, getrunken oder geredet. Klimaanlage im Sommer und Heizung im Winter funktionieren super und deutlich besser als in Deutschland. Und weil Japaner Gerüche nicht mögen, weder Gestank noch Parfüm, riecht es einfach nach gar nichts. Umfallen kann man nicht, es gibt “only-women”-Wagons, und die Körpermasse lässt sich ebenso wie Wasser nicht wirklich komprimieren. Wer nicht gerade an Klaustrophobie leidet, sollte mit einem vollgestopften Zug in Japan eigentlich kein Problem haben. Ähnlich läuft es im Bus. Während der Rushhour schlafen sowieso die meisten – im Sitzen wie im Stehen.

    Das einzige was mich stört, ist das Japaner grundsätzlich nicht aufstehen, wenn kleine Kinder oder ältere Menschen keinen Sitzplatz finden – das ist dann halt so. Ich werde auch oft komisch angeschaut, wenn ich dann aufstehe.


    Leben in Japan: Japanische Toiletten

    Ach ja. Die japanische Wundertoilette… die echte japanische Toilette ist übrigens ein gefliestes Loch im Boden. Die durchschnittliche japanisch-europäische Toilette (auch genannt Wunder-Toilette) hat eine beheizte Klobrille, öffnet den Deckel automatisch, wenn man sie betritt, kann Musik oder wahlweise die Geräusche von Flüssen und Wasserfällen spielen, ist mit unzähligen japanischen Zeichen und Knöpfen bestückt – und hat die Klospülung irgendwo, wo man sie nicht findet, aber ganz bestimmt nicht unter den Knöpfen. Bevor ihr also irgendwas drückt, sucht erstmal nach metallenen Hebeln zum Ziehen oder Drücken meist hinter der Toilette an der Wand. 


    Ein paar Beobachtungen über Japaner 

    “Japaner sind klein und schwarzhaarig?”

    In Regel wahrscheinlich schon. Typischerweise gibt es zwei offensichtliche Gruppen in Japan: die „Japaner” und die „Nicht-Japaner,“ selbst für in ungeübtes Auges ganz gut zu unterscheiden. Bei näherer Betrachtung unterscheiden sich die „Nicht-Japaner“ auch noch einmal, nämlich in – wer ahnt es schon? – diejenigen, die tatsächlich Ausländer sind, und diejenigen, die eigentlich Japaner sind. Letztere haben ein schweres Los. Nicht japanisch auszusehen, bedeutet erstmal, nicht japanisch zu sein, dagegen ist recht schwer anzukommen. Nach acht Wochen muss ich sagen, ich kann ohne Probleme sehen, ob das eigentlich offensichtlich japanische Mädchen neben mir ein amerikanisches oder europäisches Elternteil gehabt hat.

    Tatsächlich unterscheiden sich japanische Augenfarben von hellbraun bis schwarz, und auch die Haare unterscheiden sich mehr, als man denkt – wie bei Europäern eben, nur in dunklerer Farbpalette. Und ich bin in Japan durchschnittlich groß, vielleicht etwas drüber. In meiner vierzig-Mann-Klasse sind vielleicht zehn Schüler wirklich größer als ich, der Rest hat meine Größe, ein paar sind kleiner.

    “Japaner sind prüde”

    Unglaublich prüde eigentlich. In der Öffentlichkeit kein Händchenhalten, kein Küssen, nicht mal Umarmungen. Hot Pants sind genauso selten wie bauchfreies Top oder tiefer Ausschnitt. Typisch für alle Frauen sind geblümte sieben-Achtel-Hosen oder lange, enge Röcke, über einer Bluse oft eine ebenfalls geblümte Jacke. Das Thema Sexualität wird lieber erstmal totgeschwiegen, sich als Mädchen allein mit einem Mann zu treffen ist verpönt.  

    Dagegen stehen die Mangas, in denen die Mädchen so ziemlich das Gegenteil von dem sind, was man wirklich sieht – „knappe“ Kleidung, nett ausgedrückt „weiblich Körperformen“ und gefärbte Haare. Im Convenience Store ist die Abteilung für Sex-Zeitschriften üblicherweise größer als die für Mangas.

    “Japaner wollen Fotos mit Europäern?”

    Keine Ahnung. Vielleicht. Wer glaubt, im Zug oder auf der Straße der Größe oder der hellen Haare wegen angestarrt zu werden, muss enttäuscht werden. Da, wo man an Europäer gewöhnt ist, guckt keiner, da, wo wo selten Europäer hinkommen, wird man nicht beachtet. Die Schulmädchen werden typischerweise hinter dem Rücken kichern, oder einen aber wie der Rest der Gesellschaft – ausgenommen kleine Kinder – komplett ignorieren. Ich meine nicht, dass man ignoriert wird, als wären sie beleidigt. Sie sehen praktisch durch einen hindurch. Wenn man also einmal das Verlangen hat, unsichtbar zu werden, sollte man nach Japan gehen. Am besten noch in einen der äußeren Stadtteile Tokios, wo man vielleicht einmal in der Woche auf einen anderen Ausländer trifft.
     
    Wenn man wie ich in einem Stadtteil, der nicht zu Tokios Touristengebieten gehört,  lebt, bürgert es sich sehr schnell ein: Jedes europäische Gesicht wird gegrüßt, mit einem Lächeln, dass in etwa sagt: “Hallo, anderer Alien in diesem Land.” Vielleicht ist es auch etwas mitleidig. “Ach, du auch hier?” Vor zwei Tagen traf ich im Zug auf zwei Amerikaner, die mich sofort anquatschten – weil ich nicht japanisch aussah. Die Gedankenkette ist immer folgende: Sieht man nicht japanisch aus, ist man kein Japaner; ist man kein Japaner, spricht man Englisch; spricht man Englisch, kann man vielleicht einmal eine Unterhaltung führen. Nach dem Gespräch gibt man sich natürlich die Hand – irgendwie muss man den Japanern, die sofort ausreichend Platz um einen lassen, ja zeigen, dass man sich nicht darum kümmert, was sie denken. Selbst im Zug, in dem man denkt‚ “Gott, hier passt keiner mehr rein,” wird man nach zwei, drei Sätzen mit einem anderen Ausländer genug Platz haben, um Walzer zu tanzen.